Tea & Coffee, Piazza & Tower. Alessi

Alessandro Mendini, 2007
"Tea & Coffee, Piazza & Tower". Herausgegeben von Peter Weiss aus Anlass der Austellung, Sparda-Bank Münster, Oktober 2007

Im 1979 aufgestellten Allgemeinplan zur Imagepolitik der Firma Alessi wurde der Gedanke geäußert, innerhalb des Unternehmens einen sehr zwanglosen Ort für expressive Recherche einzurichten, wo Architekten und Designer experimentelle Methoden, Formen und Typologien bezüglich der damals aktuellen Diskussionen über den Neo- und Postmodern ismus und über die Bestrebungen des neuen italienischen und internationalen Designs ausarbeiten und vorschlagen konnten. Neben anderen Projekten zeichnete sich so folgende Hypothese ab: "die Möglichkeit, nummerierte und signierte funktionelle Stücke, insbesondere Kaffee- und Teeservice (mit Milchkännchen, Zuckerdose und Tablett), hochaktueller internationaler Designer herauszugeben, so dass das Programm zum Terrain eines raffinierten expressiven Experimentierens von Architektur und Design würde. Das Ganze nicht unbedingt nur aus Stahl - experimentelle Objekte, nicht produzierbare Objekte, eine Sammlung von Ideen, ein möglicher Anfang eines Alessi-Museums von Haushaltswaren". Zu diesem Zweck wurden Kontakte zu einigen Architekten zwecks einer Reihe von Projekten geknüpft, die sich für formelle und technische Recherchen eigneten. Man wandte sich an Ralph Erskine, Michael Graves, Arata Isozaki, Kazumasa Yamashita, Charles Jencks, Richard Meier, Paolo Portoghesi, Bruno Reichlin, Aldo Rossi, Stanley Tigerman, Oscar Tusquets und Bob Venturi. Am Ende dieser Kontakte entstand nach langwieriger, mühsamer Organisations-, Produkt-ions- und Koordinierungsarbeit und einigen Abänderungen bei der Wahl der Autoren das Alessiprojekt "Tea & Coffee Piazza". Um die Herstellungsprobleme zu minimieren, wurden alle Stücke aus dem vertrauten Material Silber (mit einigen ergänzenden Materialien) hergestellt. Zeitgleich fanden auf internationaler Ebene interessante parallele Erfahrungen auf dem Gebiet des neuen Designs und der Mikroarchitektur statt. Involviert waren darin Projekte von Knoll International, Alchimia, Memphis und  der "Strada Novissima" auf der Architektur-biennale in Venedig 1980,  an denen sich auch Autoren des Alessi Tea & Coffee Piazza Unternehmens beteiligten. Diese Arbeit gab dem Unternehmen die Gelegenheit zur Öffnung neuer Warensektoren. Sie entsprang der Hypothese, Untersuchungen über die experimentelle Form der Gebrauchsgegenstände und über die notwendige Öffnung des institutionellen Haushaltswarendesigns durch einen reiferen Dialog mit dem eklektischen und ernüchterten Bewohner durchzuführen, der sich schnell der Schwelle des Jahres Zweitausend näherte. Diese "Häuslichen Landschaften" sind ein kleines, doch vielleicht rechtzeitig durchgeführtes Experiment innerhalb der riesengroßen Probleme der heutigen Zeit. Ihr Ziel ist die Beleuchtung der neuen Realität möglicher anthropologischer Objekte, die sich zwischen das Bewusst-sein der Tradition und den Zauber des Unbekannten stellen.
Zwanzig Jahre nach dem ersten Projekt im Jahre 1983 haben Alberto Alessi und ich wieder dieselbe Idee aufgegriffen und wir waren der Meinung, dass das gleiche Projekt fast unverändert wiederholbar wäre. Wir sind tatsächlich davon überzeugt, dass die damals ausgearbeiteten theoretischen Thesen ihren kulturellen und experimentellen Sinn auch heute noch beibehalten und demzufolge auch jetzt noch vollauf gültig sind. Und ebenso wie das damalige Projekt zur radikalen Umformung des internationalen Designs beitrug, gehen  auf das Experi-ment von 2003 viele Anstöße und Neuerungen im Design zurück. So entpuppt sich demnach das Tee- und Kaffeeservice als ein zeitloses Genre und eine dauerhafte Typologie,  ein chamäleonartiges "Stillleben", dessen Geschichte sich als magisches Spielfeld für expressive und technologische Recherchen darbietet. Es ist nicht nur ein Behälter für althergebrachte, wohlriechende Getränke, sondern auch für Theorien.
Zugleich ist das Alessi-Experiment auch eine Geschichte über Mikrotafelarchitektur und häusliche Mikrourbanistik. Mit den Utopien der Autoren kamen Visionen eines Mikrouniversums in die Häuser und ihre Arbeiten waren Botschafter und  Ikonen der Gastfreundschaft. Dieser Sinn für architektonischen Aufbau und Komposition einerseits und für Symbolik und häusliches Ritual anderseits bildete die Grundlage, auf welcher alle elf Autoren der ersten Veranstaltung "Tea & Coffee Piazza" ihre Projekte ausarbeiteten. Damals wurden alle Objekte aus Silber hergestellt, neunundneunzig Kopien von jedem Projekt.
Die Ergebnisse dieses einzigartigen Experiments mit den elf Autoren wurden zu einem beispielhaften Statement der Postmoderne, dessen Bedeutung, Nachahmung und Impuls weit über das Projekt im engeren Sinne hinausgehen. Hierbei sei nur auf die industriellen Nebenprodukte verwiesen,  aus denen zwei Bestseller der Alessi hervorgingen: die Espresso-maschine "La Conica" von Aldo Rossi und der Wasserkessel von Michael Graves, abgesehen von verschiedenen anderen Katalogprodukten.
Wie ersichtlich, gab das Projekt der Firma wesentliche Anregungen und neue Möglichkeiten, denn es traf den Kern der grundlegenden Probleme. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass sich die Zeiten heute sehr verändert haben und die diesbezüglichen Ansprüche und alle Parameter verschieden sind. Nach einer langen Phase großen Stillstands erscheint das Gefüge der architektonischen Kultur, weit mehr als das des Designs, seit einigen Jahren wieder neu und vital. Viele unlängst in der ganzen Welt durchgeführte Werke lassen ein neues architek-tonisches Selbstverständnis und eine entsprechende eigenständige Ausdrucksweise erkennen. Eine gründliche Analyse hat uns zur Wahl der einundzwanzig Architekten geführt, denen wir die Teilnahme am zweiten Projekt vorgeschlagen haben. Das sind sie: Vito Acconci, William Alsop, Wiel Arets, Shigeru Ban, Gary Chang, David Chipperfield, Denton-Corker-Marshall, Dezsö Ekler, Massimiliano Fuksas und Doriana O. Mandrelli, Future Systems, Zaha Hadid, Tom Kovac, Toyo Ito, Greg Lynn, Juan Navarro Baldeweg, Morphosis, M.V.R.DV., Jean Nouvel, Dominique Perrault, Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa, Ben van Berkel und Caroline Bos sowie ich selbst als Joker. Da sich die neuen Arbeiten vornehmlich mit der vertikalen Dimension des Gestaltens beschäftigen und so eine neue Skyline schufen, wurde das Programm  "Tea & Coffee Towers" genannt.
Da sich die Autoren stark voneinander unterschieden, war es weder möglich, die Objekte auf ein einziges Material zu beschränken, noch sie innerhalb der traditionellen Grenzen der vorgegebenen Typologie zu halten. Einheitliche Elemente aller Autoren waren ihre Altersgruppe, die äußerst raffinierten Planungstechniken, die virtuell erzielten Zeichnungen, die mehr medienbezogenen als stereometrischen Visionen des Raums und das Augenmerk auf eine kommunikative Rezeption der Objekte, die durch einen Mix verschiedener visueller Zutaten erreicht wurde.
Eine gemeinsame Klammer war wie beim vorhergehenden Projekt ferner die Tatsache, dass die ausgewählten Architekten sich bisher wenig mit Industriedesign auseinandergesetzt hatten. Das Tee- und Kaffeeservice war deshalb nochmals das geeignete Thema, um auf Mikroniveau die poetischen Vorstellungen und Visionen der Welt, die Ausdrucksweisen, die Reize, die Materialien, die Lichteinflüsse, Farben, Techniken und Prozesse auszulösen und zu verwirklichen, die unsere einundzwanzig Architekten vor Augen haben, wenn sie auf großem Maßstab arbeiten.
Ich war immer der Meinung, dass die Interaktion zwischen analogen Disziplinen nicht nur eine sportliche Übung sei, sondern eine sehr nützliche Methode für die gegenseitige Befruchtung ihrer Zukunft. Insbesondere zwischen der Architektur (groß) und dem Design (klein) ist es von Bedeutung, auf dem Paradox zwischen den Größen, dem schwindelerregenden Unterschied des Maßstabs und dem Zusammenspiel der untereinander weit entfernten Funktionen aufzubauen.
Unser zweites Projekt hatte - heute ebenso wie im weit zurückliegenden Jahr 1983 - zwei Ziele. Das erste war allgemeiner Art und beschäftigte sich mit der prinzipiellen Ermittlung, wie man sich die ungewisse Zukunft der Haushaltsgegenstände vorzustellen habe, wobei originelle Vorstellungen ohne jegliche Einschränkung und ohne praktischen oder industriellen Zwang in das Blickfeld gerückt und miteinander verglichen wurden. Das zweite Ziel bestand auch diesmal in der Auffindung neuer Katalogprodukte.
Welchen Hinweis und welche Botschaft kann man der Designerfahrung entnehmen, die von diesen einundzwanzig Architekten gemeinsam vollbracht wurde? Ist es möglich, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und einen vereinigenden Faktor zu finden, der vor zwanzig Jahren als Postmodernismus in die Geschichte einging? Wenn wir das heutige Panorama des Designs in der Welt betrachten, entdecken wir einen allgemeinen Verzicht auf Vertiefung, auf kritische und selbstkritische Annäherung sowie auf eine moralische Vision der zukünftigen Generationen: alles ist gefügig, stillschweigend duldend, mitwirkend und sorglos. Oft "geschieht" etwas und ist weiter nichts  als ein inhaltsloser Manierismus, der nur auf Ästhetik bedacht ist, verantwortungs- und problemlos. Anstelle von umfassenden Projekten menschlicher Zukunftsvision und kosmischen Ambitionen begnügt man sich mit der Illusion, den verzehrenden Rausch des plötzlichen Erfolges ins Unendliche verlängern zu können, der ohne Reibungen, ohne Metaphern, ohne Weltanschauungen oder Erzählungen das Streben nach Wahrheit jedoch zersetzt und zunichte macht. Dieses Nirwana durch Projekte zu verändern, die radikale Alternativen bieten, ist wegen der Unmenge und der Komplexität der ihnen innewohnenden Elemente äußerst schwierig, ganz besonders nach dem Erscheinen des Labyrinths der Virtualität. Ich bin jedenfalls der Meinung, dass die von uns angesprochenen und ausgewählten Intellektuellen - die einundzwanzig Architekten - Ideale, Zustände und Angebote ausgedrücken, jene kritischen Zeichen gesetzt und jene richtigen Handlungen vollbracht haben, die neue Ereignisse sowie ein wiedergefundendes Bewusstsein und eine neue Verantwortlichkeit der Dinge ankündigen.